Kritische Reanimation eines Denkmals
Was machen Sie da?
Es handelt sich um die kritische Reanimation eines Denkmals. Wir haben für die Bundesregierung ein Soforthilfeprogramm entwickelt. Die Behandlung dieses minutiös vorbereiteten Aktes politischer Schönheit ist ein Rorschachtest für die amtierende Regierung: ist die Schande des Holocaust zur toten Erinnerung verkommen oder kann sie zu realen Handlungsanweisungen in der Gegenwart führen? Der Wert von Erinnern und Gedenken steht mit dem apokalyptischen Massensterben in Syrien auf dem Spiel.
Flüchtlingspolitik in Deutschland verläuft bislang so, dass man alles unternahm, um sich nicht der Frage zu stellen, ob Deutschland zu viele oder zu wenige Flüchtlinge aufnimmt. Die Kindertransporthilfe des Bundes setzt sich bewusst dieser Frage aus und formuliert eine erste Antwort. Die Antwort ist nicht angenehm, aber besser als gar keine. Laut UNICEF sind 5,5 Millionen Kinder akut hilfsbedürftig. 55.000 von 5,5 Millionen Kindern, das heißt: Eins von Hundert. Wenn eines von hundert Kindern von der deutschen Regierung gerettet wird, bleiben 99 zurück. Wenn keinem Kind geholfen wird, bleiben 100 zurück. Wirklich zu helfen bedeutet: selektieren, wer stirbt und wer überlebt. Wirklich helfen heißt notgedrungen, im moralischen Morast zu stecken. Die gegenwärtig vorgelebte Alternative ist das Nichtstun. – Nichtstun heißt Töten!
Ist das nicht Amtsanmaßung?
“Amtsanmaßung” ist ein zentraler Begriff der Aktion. Wir nehmen ein amtliches Maß an der Realität und zeigen die Verhältnisse, die Maßstäbe, in denen wir uns bewegen. Deutschland ist ein reiches Land und hat wesentlich mehr Kapazitäten als in der Hyperrealität der Kindertransporthilfe des Bundes. – Amtsanmaßend wäre es gegenüber der Geschichte Deutschlands, genauso wie gegenüber 10 Millionen Flüchtlingen, nur 10.000 die Einreise zu genehmigen. Wir schaffen ein Gefühl für die kleingeistige Größenordnung, in der der Bereich der deutschen Flüchtlingspolitik feststeckt.
Darf man das, die Kindertransporte mit Gegenwart reanimieren? Verharmlosen sie damit nicht den Holocaust?
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht das Leid der syrischen Bevölkerung verharmlosen, wenn wir den Holocaust als Messlatte aufstellen, unter der jedes andere Leid nur halbes Leid ist. Die Kindertransporte von 1938 stellten eine schnelle Reaktion auf die Reichskristallnacht dar. Die Situation in Aleppo ist im Jahr 2014 definitiv schlimmer als die Situation der Juden 1938. In Syrien herrscht in weiten Teilen seit drei Jahren Reichskristallnacht. Wenn Assad den Krieg gewinnen sollte, wird er alle töten, die am Aufstand gegen ihn in irgendeiner Form beteiligt waren. Wir reden nicht nur von der systematischen Ermordung aller Oppositionellen, sondern der Vernichtung ganzer Familienstammbäume. Es wird keiner überleben, der den Aufstand mitorganisiert hat.
Warum konzentriert sich die Aktion auf die Aufnahme von Flüchtlingskindern? Bloß die Kinder aufzunehmen, die Eltern aber ihrem Schicksal zu überlassen, ist doch für alle Beteiligten schrecklich – oder nicht?
Das ist nicht „unsere“ Aktion. Das ist die Geschichte der Kindertransporte von 1938, die sie gerade in Echtzeit auf unserer Seite verfolgen können. Wir haben das adaptiert. Die Kindertransporte waren für alle Beteiligten fürchterlich. Aus den von Ihnen genannten Gründen. Niemand glaubt doch ernsthaft, dass es 1938 für Mütter einfacher war, ihre Kinder ins Unbekannte zu schicken.
Da ist Kurt Gutmann, der bei unserer Aktion dabei ist. Sein eigener Bruder, der schon lange vor ihm nach Schottland kindertransportiert wurde, verhinderte die Gelegenheit, dass seine Mutter ausreisen und zu ihnen gelangen konnte. Gutmanns Mutter wurde im KZ Sobibor getötet.
Die Kindertransporte sind nicht nur die Geschichte eines kurzfristigen Risses im Eisernen Vorhang der alliierten Flüchtlingsabwehr – ein Riss, der bis heute hoch gefeiert und gepriesen wird, was uns im Zusammenhang mit Frontex und der europäischen Flüchtlingsabwehr viel mehr zu denken geben sollte, als die meisten zunächst meinen, die den Kindertransporten von 1938 huldigen und heute wegsehen. Keine alliierte Regierung war 1938 bereit, deutsch-jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Aber: die Kindertransporte sind auch die Geschichte von der Zerstörung ganzer deutsch-jüdischer Familien.
Ich habe mich jetzt ein ganzes Jahr mit den Kindertransporten auseinandergesetzt. Wenn es eine Lehre gibt, die wir in die Gegenwart mit der Geschichte von 1938 mitnehmen sollten, dann diese: Flüchtlingsabwehr ist in Krisenzeiten für reiche und freie Staaten eine absolute Schande.
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