Manuela Schwesigs Eröffnungsrede auf der internationalen Syrien-Friedenskonferenz in Istanbul
Manuskript Rede
Eröffnungsrede auf der internationalen Syrien-Friedenskonferenz vom 7.5.2014 in Istanbul
Bundesministerin Manuela Schwesig
Grußwort
Manuela Schwesig, Germany
Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Premierminister, hochgeschätzte Vertreterinnen und Vertreter des syrischen Volkes,
Ich freue mich sehr über die hohe Zahl syrischer Vertreter, die den Weg trotz der widrigen Bedingungen hierher gefunden haben. Zunächst einmal soll ich Sie im Namen der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, herzlich grüßen. Ich blicke in wenige mir bekannte, aber viele unbekannte Gesichter. Mein Amt als Familienministerin der Bundesrepublik Deutschland hievt mich eigentlich nicht auf das Parkett der großen Politik. Ich weiß, Sie haben hier heute wichtige Arbeit zu leisten. Lassen Sie mich deshalb in aller Kürze erläutern, welche Ereignisse mich hergeführt haben.
Der 11. März 2014 war für mich persönlich der Tag, der mich aufgerüttelt hat. UNICEF veröffentlichte an diesem Tag einen Bericht mit dem Titel „Unter Belagerung: Die verheerenden Auswirkungen von drei Jahren Konflikt in Syrien auf die Kinder“. Die Schicksale und Verbrechen, von denen dort die Rede ist, haben mich nicht mehr ruhig schlafen lassen. Als Mutter, als Mensch und als Mitglied der deutschen Regierung machte mich der Bericht, von dem ich in einer Radiosendung erfuhr, mehr als nur betroffen. [3] Da war die Geschichte von Khaled, einem völlig unterernährten Baby, wie es Hunderte in einem eingekesselten Stadtteil der Hauptstadt Damaskus gibt. Die Vereinten Nationen bringen über die beschlossenen humanitären Korridore nicht genug zu essen. Ein Arzt sagt über Khaled: „Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er 14 Monate alt. Aber er sah aus wie ein fünf Monate altes.“ Seine 29jährige Mutter Zahra meint: „Die Hölle ist besser als das Leben in Yarmouk.“ Die Erschöpfung der Menschen in den belagerten Gebieten ist so total, dass sie mittlerweile sagen: Gebt uns nur Nahrung, damit wir überleben und wir verzichten auf alles, worauf wir gesetzt haben: Demokratie, Menschenrechte, Freiheit nach über fünfzig Jahren. Müssen wir diesen Menschen nicht, helfen, damit sie nicht mehr darauf verzichten müssen?
Die Kinder Syriens sind nicht einfach nur Kriegsopfer oder Flüchtige. Sie sind vor allem noch Kinder. Kinder genießen in allen Kulturen einen besonderen Status. Uns allen muss es zu allererst und zunächst einmal um den Schutz dieser Kinder gehen? Es ist mir peinlich, das zuzugestehen: der Bericht war das erste Mal, dass ich von diesen Dingen hörte. Ich weiß, in den türkischen und anderen Medien ist die syrische Apokalypse omnipräsent. Aber in Deutschland hören die Menschen nichts davon. Sie sind misstrauisch und überfordert. Die meisten Menschen in meinem Land werden jetzt durch die Bundesregierung zum ersten Mal mit der Katastrophe konfrontiert, die die Menschen in Syrien seit drei Jahren durchstehen müssen. Aber ich versichere ihnen: ganz Deutschland ist nicht nur aufrichtig erschüttert, sondern auch bereit, wirklich zu helfen. Wir haben inzwischen Angebote von Taxifahrern, Geistlichen, von Privatschulen. Überall aus dem Land erreicht uns eine Welle echter, gelebter Solidarität. Die Menschen wissen, was Verfolgung und Bombenterror bedeuten. Die ärmsten wie die wohlhabendsten Familien sind bereit, ein syrisches Flüchtlingskind aufzunehmen. Die syrische Zivilbevölkerung kann von uns erwarten, dass wir ihr mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe eilen.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte aus meinem Leben erzählen. Mein Lieblingslehrer in der Schule hieß Herr Krüger. Herr Krüger war Geschichtslehrer. Als Schülerin verehrte ich ihn. Für Herrn Krüger war der Satz „Nie wieder“ keine leere Floskel. Für ihn war dieser Satz ein Versprechen, das die Zukunft der Menschheit zusammenhält. Er pflegte zu sagen: „Brechen wir mit diesem Schwur, hat unsere Spezies keine Zukunft mehr.“ Was in Syrien geschieht, ist die schleichende Ermordung der ganzen Bevölkerung. 150.000 Menschen wurden bereits getötet. Wir müssen diese Getöteten ins Gedächtnis der Menschheit einmeißeln. Fast 10 Millionen Kinder, Frauen und Männer sind auf der Flucht. In den Nachbarländern Libanon, Jordanien, Türkei und Irak sind Millionen in eilends geschaffenen primitiven Notunterkünften gestrandet. 10 Millionen Menschen vertrieben oder auf der Flucht? Wann gab es das zum letzten Mal.
Als ich mich für die Politik entschied, wählte ich 2003 eine Partei aus, die SPD – die Sozialdemokratische Partei Deutschlands – der es immer darum ging, Präsenz zu zeigen. Eine Partei, die sich auf die Fahne geschrieben hat und die auf eine lange Tradition zurückblicken kann, als solidarischer Friedenskraft an der Seite von Opfern von Krieg und Unterdrückung zu stehen. Als ich 2008 nach meiner Elternzeit in eine Staatskanzlei wechselte, tat ich das, um Tragödien in Deutschland zu verhindern. Ein Mädchen verhungerte damals, weil ihre Eltern in jeder Hinsicht überfordert waren.
Als ich 2013 Mitglied der Bundesregierung wurde, war mir klar, dass sich das Wort Politik nicht in Renten- oder Kitaplänen erschöpft. Politik ist die Fähigkeit, den Ernst einer Lage zu verstehen. Politik ist die Begabung, einem epochalen Verbrechen in die Augen zu blicken. Die Brutalität der Luftangriffe der Flugzeuge des Regimes auf Aleppo und auf andere Städte erreicht ein Maß, das die Mitglieder des Kabinetts der deutschen Regierung einfach nur stumm macht. Wie die Weltgemeinschaft bislang mit Syrien umgeht, ist mit nichts in der Geschichte der Menschheit zu vergleichen. Es ist beleidigend für alle Menschen, wie die international Gemeinschaft versucht hat, Syrien unter den Teppich zu kehren.
Meine Damen und Herren, ich kann ihnen hier und heute, auch im Namen der Bundeskanzlerin, verkünden, dass mein Land bereit ist, einen hohen Preis zu zahlen, um den syrischen Kinder in Not zu helfen. Es liegt im obersten Interesse unseres Staates, dass die Kinder Syriens überleben. Wenn die syrischen Mädchen und Jungen nicht im Interesse der Weltgemeinschaft liegen, dann liegen sie fortan im obersten Interesse Deutschlands. Deutschland wird in Zukunft mit allen Mitteln Kinderrechte im Völkerrecht durchsetzen.
Nach dem Vorbild der Kindertransporte suchen wir derzeit in der Bundesrepublik Deutschland Pflegefamilien, die bereit sind, syrische Kriegskinder für die Dauer des Konflikts aufzunehmen. Ich darf ihnen im Namen der deutschen Regierung versichern, dass wir es schaffen werden, 55.000 syrischen Kindern vorübergehend zu schützen.
Mein Geschichtslehrer, Herr Krüger, meinte damals, Großbritannien habe seine Ehre durch die Kindertransporte gerettet. Von Dezember 1938 bis Oktober 1939 bewilligte die britische Regierung fast 10.000 jüdischen Kindern die Einreise. Sollten wir nicht im Angesicht einer halben Million eingesperrter Menschen in den 40 belagerten Gebieten Syriens, im Angesicht von Menschen, die hungern, deren Liebsten auf grauenvolle Weise ermordet werden und die jeden Tag um ihr Leben fürchten, müssen wir nicht angesichts all dessen langsam beginnen, unsere Ehre zu retten?
An der Friedrichstrasse in Berlin ging ich vor meiner Zeit als Ministerin Tag für Tag an einem Denkmal vorbei, dass zu Ehren der britischen Kindertransporte aufgestellt wurde. Es erinnert täglich Hunderttausende Deutsche daran, was engagierten Bürgerinnen und Bürgern im Jahre 1938, lange vor dem Bau von Auschwitz, möglich war. Was befürchtet die Welt mehr von meinem Land, als dass es nichts aus seiner Geschichte gelernt hat? Ich für meinen Teil fürchte nichts so sehr wie ein abgestorbenes, lebloses Denkmal. Wir wollen dieses Denkmal wiederbeleben.
Die Vereinten Nationen bezeichnen Syrien als gefährlichsten Ort der Erde. Die ganze Welt wird Schaden nehmen, wenn wir jetzt nicht helfen. Aber selbst das reiche Deutschland kann nicht die Probleme Aller Menschen in Syrien lösen. Wir sind nicht allmächtig. Laut UNICEF sind allein 5,5 Millionen Kinder in und um Syrien akut hilfsbedürftig. Aber als größter Mitgliedsstaat der Europäischen Union können wir 55.000 Kindern helfen.
Wir hoffen auf Verständnis, dass wir in dieser historischen Stunde alles daran setzen, besonders gefährdete Kinder aus Syrien herauszuholen. Wer helfen will, muss Prioritäten setzen. Wir haben Tausende Hilferufe und Emails aus allen Landesteilen Syriens erhalten. Mit persönlichen Details und Fotos. Viele sind so rührend geschrieben, dass es ein hartes Herz erforderte, sie zu den Akten zu legen. Wir müssen eine Auswahl treffen angesichts der Tatsache, dass wir nicht alle Kinder in Deutschland aufnehmen können. Helfen bedeutet selektieren. Zu helfen heißt eine Wahl zu treffen, wem man helfen und wem man nicht helfen kann. Ich bin vor allem stolz darauf, in einem Land zu leben, dass sein Glück nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei Anderen sucht.
Koran 70.19 (-25), Al-Maarij (Die Wege des Aufstiegs)
Gewiß, der Mensch ist kleinmütig erschaffen.
Wenn ihn Schlechtes trifft, ist er voller Klage.
Wenn ihn Gutes trifft, verweigert er es anderen.
Außer denjenigen, die in ihren Gebeten beharrlich sind
und die ein festgesetztes Recht an ihrem Besitz zugestehen
dem Bettler und dem Unbemittelten
Ich danke Ihnen für die außerordentliche Bereitschaft zur Kooperation, von der wir seit Tagen überhäuft werden. Aber bitte bedenken Sie, es ist die syrische Bevölkerung, die unseren Beistand und unsere Hilfe verdienen. Ich wünsche Ihnen allen gutes Gelingen bei dieser Konferenz.